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Der Schwibbogen

Der Schwibbogen

Es ist kalt geworden. Das Badezimmerfenster beschlägt sofort als ich es öffne, um hinaus in die Nacht zu schauen. Ich habe die letzten Stunden damit verbracht, einen Schlafzimmerschrank in unserer neuen, noch leer stehenden, Wohnung aufzubauen. Ich lehne mich leicht hinaus und schaue über die Häuser. In den Balkonen und unter den Vordächern hängen rote und gelbe Sterne. Während die meisten Fenster herrlich beleuchtet sind, ist ein kleines Fenster dunkel. Hinter der Fensterscheibe erkenne ich einen älteren Herrn, der einen Schwibbogen im Fenster zurecht stellt. An seiner Seite, mit Argusaugen die Prozedur beobachtend, steht ein kleiner Junge. Möglicherweise ist es ein Opa mit seinem Enkel. Ich beobachte das Geschehen. So sehr die zwei den Bogen auch schütteln, das Kabel abtasten und prüfend an den Glühbirnen schrauben, bleibt das Fenster der beiden dunkel. „Er funktioniert nicht, Opa“ höre ich den kleinen enttäuschten Kerl in meinen Gedanken sagen. Mein Blick auf das Geschehen gerichtet, schweifen meine Gedanken ab und ich erinnere mich…

Ein mystisches geheimnisvolles Licht

Schwibbögen überall. In jedem Fenster. Wo ich auch hinschaute und meinen, unter einer Pelzmütze versteckten kleinen Kopf drehte, sah ich Schwibbögen. Und rote Sterne – diese weiß-roten Papiersterne zum Auseinanderfalten. An jedem der Winterabende in der Adventszeit hielt ich fasziniert Ausschau nach diesen halbrunden Leuchtbögen, eine handgefertigte Spezialität aus dem Erzgebirge. Einige waren mit warm-weißen Lichtern bestückt, andere wiederum mit bunten. Sie erleuchteten die dahinter hängenden Gardinen und wiederum die dahinter liegenden Zimmer mit einem mystischen geheimnisvollen Licht.

Objekt der Begierde

Ich begann, mir meinen Favoriten zusammenzustellen und überlegte, welchen der Schwibbögen ich einmal haben werde. Später, wenn ich dann groß bin, in vielen Jahren! In jeder Straße gab es mindestens ein Fenster, in dem ich ein perfektes Exemplar entdecken konnte. Es gab schließlich so viele unterschiedliche Formen, die nur ein wahrer Kenner der Schwibbogenmaterie zu erkennen vermochte. Denn es war bei Leibe nicht jeder Schwibbogen gleich! Es gab jene, bei denen die Lichter weit auseinander standen; jene, die nicht halbrund sondern eher halboval geformt waren; jene, deren Lichter nicht gleichmäßig zueinander standen und noch viele andere, die weit von meinem idealen Wunsch-Schwibbogen entfernt waren.

Mein persönliches Objekt der Begierde war ein Taulin-Schwibbogen. Er sollte einen perfekten Halbrundbogen besitzen und bunte ovale Lichter haben, ja, bunt sollten sie sein. Im Inneren sollten die berühmten zwei Bergmänner als Motiv zu sehen sein. Wann immer ich die Möglichkeit hatte, zeichnete ich ‚meinen‘ perfekten Schwibbogen und ich träumte sogar von ihm.

Meine Vorstellung eines perfekten Schwibbogens, gezeichnet von meinem jüngeren Ich

Meine Vorstellung eines perfekten Schwibbogens, gezeichnet von meinem jüngeren Ich
Meine Vorstellung eines perfekten Schwibbogens, gezeichnet von meinem jüngeren Ich
Nicht ganz geglückte Zeichnung eines perfekten Schwibbogens, gezeichnet von meinem jüngeren Ich.
Nicht ganz geglückte Zeichnung eines perfekten Schwibbogens, gezeichnet kleinen Roman

Pyramide statt Schwibbogen

Auch wenn ein Schwibbogen für mich nicht greifbar und ein leiser unausgesprochener Wunsch war, blieb mein Fenster in der Weihnachtszeit bei weitem nicht dunkel. Bei meinen Großeltern im Kinderzimmer beispielsweise hatte ich eine große längliche Pyramide im Fenster hängen – in der Form eines Weihnachtsbaums sozusagen, aus feinen Holzleisten zusammengebaut. Befestigt wurde der reichlich 1 Meter große Holzrahmen mit einer kleinen feingliedrigen Kette am oberen Fensterrahmen. An seinen langen Seiten waren in regelmäßigen Abständen bunte Glühbirnen einer Lichterkette befestigt. Es war ein unwahrscheinlich tolles Licht. Jedes Weihnachten freute ich mich auf eben jenes Licht und die Stimmung, die es in mein Zimmer zauberte.

Im Jahr als dann mein Opa verstarb, hing jene Pyramide zur Weihnachtszeit in meinem Zimmer zuhause am Fenster. Es schien mir, als wäre ihr Licht gedämpfter als die Jahre zuvor.

Dieses Exemplar hatte ich wohl damals im Kopf als ich ihn gezeichnet habe, sodass er meiner Zeichnung doch ziemlich nahe kommt.

Eines Tages, vielleicht

Die Jahre vergingen und ob Sie es glauben oder nicht, ich habe einen solchen Taulin-Schwibbogen selbst nie besessen. Auch heute nicht. Jedes Jahr in der Weihnachtszeit schaue ich an den Hauswänden empor und suche noch immer nach ‚meinem perfekten‘ Schwibbogen in jedem einzelnen Fenster. Die Unbeschwertheit von damals ist verschwunden, doch diese stillen Lichter in den Fenstern erinnern mich an jene Zeit. Für mich sind sie stumme Zeugen in einer verrückt gewordenen Welt, die mich ermahnen, inne zu halten und Demut zu zeigen.

Und während ich diesen Gedanken kaum zu Ende denke, erstrahlt ein gerade eben noch dunkles Fenster in einem warmen Licht. Die beiden haben es doch tatsächlich geschafft – er leuchtet.

Eines Tages, vielleicht, wird ein solcher beleuchteter Bogen auch in meinem Fenster stehen. Ganz genauso wie ich ihn mir damals vorgestellt habe und nicht anders, würde er dann auch mein Zimmer in ein geheimnisvolles Licht tauchen. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise hat alles seinen bestimmten Platz im Leben. Nehmen manche Dinge ungefragt Platz im eigenen Leben ein, bleiben andere Dinge irgendwie unerreichbar. Vielleicht soll das so sein, damit man ihren wahren Wert erkennt.

Ich halte auch dieses Jahr, wohin ich auch gehe, weiter Ausschau und freu mich, wenn ich ihn entdecke – meinen perfekten Schwibbogen. …und manchmal träume ich noch von ihm.

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