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24. POS Fritz Selbmann Hoyerswerda

Herr Göbel

Herr Göbel

Vorstellungstag

Er wurde uns als unser neuer Mathelehrer angekündigt – Herr Göbel – frisch von der Uni, keine 30 Jahre alt, fit und agil und voller Tatendrang. Am Tag seiner Vorstellung saß unsere Klasse ehrfürchtig und geschlossen vor ihm. Vor uns stand ein doch recht kleiner drahtiger Mann, mit blauen Augen, einer Frisur wie sein Lieblingssänger Phil Collins, schwarze Jeans, schwarze Schnürschuhe, die beim Laufen immer leicht knarzten und ein T-Shirt. Das war sozusagen Herr Göbels Uniform – an lockeren Tagen. An besonderen Tagen trug er ein Hemd, dessen Ärmel sich gern aufpluderten und diese typischen Stoffgeräusche machten, wenn er in ausufernden Bewegungen an der Tafel Formeln auflöste. Wenn er uns eine mathematische Frage stellte und einzelne Schüler zur Beantwortung heraus pickte, vergrub er die Hände stets in den Hosentaschen seiner Jeans, so, dass nur die Daumen heraus schauten.

Jetta und Daimler

Er besaß, soweit ich weiß, zwei Autos: einen silbergrauen Volkswagen Jetta und einen alten blaugrauen Daimler. Eines Nachmittages sagte einer unserer Jungs „hey, da steht das Auto vom Göbel!“. Neugierig drückten wir uns an den Fensterscheiben unsere Nasen platt, als würde es außer dem Innenraum des Autos noch etwas zu entdecken geben, das uns Aufschluss über unseren neuen Mathelehrer liefern würde. Eine Unmenge an Musikkassetten lagen sowohl im Fußraum als auch auf dem Beifahrersitz verteilt, neben zahlreichen losen Schriftstücken. Wir mutmaßten, ob es sich bei den Papieren um noch nicht korrigierte Klassenarbeiten handeln könne. Wir erfuhren es nie.

Die unterste Schublade seines Schreibtisches

Das Schuljahr zog sich und es war regelmäßig das gleiche Spiel: Klassenarbeit ist angekündigt – Roman geht mit mulmigen Gefühl in die Schule und ist erstmal froh, wenn die 45 Minuten vorbei sind. Ein paar Tage später (das war so sicher wie das Amen in der Kirche) gab es die (gefühlte) Katastrophe natürlich korrigiert und benotet zurück, was dazu führte, dass ich mich mit einem noch viel mulmigeren Gefühl morgens auf den Weg zur Schule machte, die nur einen Steinwurf von meinem Zuhause entfernt war.

Die Katastrophe lag dann kariert vor mir und ich überlegte die restlichen Unterrichtsstunden, wie ich das meinen Eltern am besten erkläre. Natürlich würde ich vor der nächsten Klassenarbeit viel mehr üben als bisher und das war sowieso nur ein Ausrutscher.

Herr Göbel hatte in einem seiner Schreibtischschübe einen doch recht beachtlich großen Karton. Es befanden sich allerhand wichtige Dinge darin – zumindest für Zehnjährige: Jojos, Matcher (Insiderwort für Machbox-Autos), Telespiele (die Urform des Gameboy), Kassetten, angeknabberte Radiergummis, Flummis, Tennisbälle, Comic-Hefte und sowas eben. Wann immer jemand in seinem Unterricht den neuesten Batman-Comic studierte, kam Herr Göbel mit seinem Karton durch die Reihen – ganz gelassen mit seinen knarzenden Lederschuhen und hielt dem Übeltäter den Karton vor die Nase. Seltsamerweise musste er kein Wort sagen – der Comic wanderte sozusagen wie von ganz allein in den Karton. Natürlich nicht ohne ein Augenrollen des Fremdlesers, aber der Comic war und blieb konfisziert.

24. POS Fritz Selbmann Hoyerswerda
Mein ehemaliges Schulhaus dem Verfall überlassen. Hunderte Male bin ich hier früh morgens entlang gelaufen. Die Penne wurde vor ein paar Jahren vollständig abgerissen.

Das Angebot

Da es um meinen Notendurchschnitt nicht rosig bestellt war, machte Herr Göbel mir ein Angebot. Ich solle eine von ihm mir gestellte Hausaufgabe bearbeiten und lösen, er würde sie kontrollieren und ich hätte die Chance mir mit einer darauf erteilten 1 oder 2 meinen Durchschnitt für’s Zeugnis zu verbessern. Gesagt getan. Ich ging mit der Aufgabe nach Hause und breitete sie siegessicher vor mir aus…

Ich weiß heute nicht mehr, was das für eine Aufgabe war aber ich bin mir sicher, dass sie für mich damals in etwa so geklungen haben muss: „Auf einer Wiese stehen zehn Bäume, an jedem Baum hängen 65 Äpfel. Wieviel Wasser befindet sich nun in dem Wasserfass diagonal zu den Bäumen auf der anderen Seite der Wiese. Rechne aus und erstelle eine passende Formel!“.

Das war unmöglich lösbar… Meine Mama hatte es in unter fünf Sekunden gelöst und animierte mich, am Tisch vor der Aufgabe mit rotem Kopf sitzend, nun den korrekten Lösungsweg zu finden. Am nächsten Tag zog ich siegesgewiss mit wehenden Fahnen in das Schulhaus ein; in meinem Ranzen die gelöste Hausaufgabe. Es war so eine Art von Genugtuung, die ich verspürte, als Herr Göbel mich an seinen Schreibtisch bat, damit ich ihm das Meisterwerk präsentieren durfte. Im Film wäre ich in an einem Zahnstocher kauend in Zeitlupe durch den Gang hin zu seinem Tisch geschritten, ein Windzug wäre mir durch die Haare gefahren und vermutlich wäre ein vertrockneter Busch vor mir geradewegs von Ingmar Hoffmann rechts hin zu Bert Rogalski links in der ersten Reihe geweht.

Der Lösungsweg

Herr Göbel schaute sich die Aufgabe an. Schaute mich an. Ich versuchte zu lächeln. Er nicht. Er schaute mich noch eindringlicher mit seinen blauen Augen an und ich vernahm eine Mischung von Kaffee und Zigaretten und After Shave. Dann fragte er mich: „und das hast Du gelöst?“. Ja Herr Göbel (hatte ich natürlich nicht, meine Mama hat mir, genervt von meiner Unfähigkeit, freiwillig die Lösung vordiktiert – am Abend zuvor, gegen 19 Uhr). Er gab mir (extra) ein neues Stück weißer Kreide aus seinem Schubfach, zwei Fächer über dem mit dem Karton mit einkassiertem Spielzeug. Er sagte: „das hast Du gut gemacht und jetzt zeig mir an der Tafel, wie Du den Lösungsweg gefunden hast!“.

Mein Blick sah nur grüne Tafel. Ich sah kein links und kein rechts. Nur Tafel. Wie sollte ich aus dieser Situation je wieder raus kommen?! Das war ein Moment des Scheiterns für mich. Aus rein taktischen Gründen zog ich es vor, den Aufgabentext noch einmal aufzuschreiben – ich hatte schon immer eine schöne Schrift. Die donnernde Stimme hinter mir donnerte: „Lass den Text weg! Nur den Lösungsweg!“. Ich war erledigt, drehte mich um und erkannte ein 10kg Gewicht aus dem vorigen Unterricht. Ich malte mir aus, was die größeren Schüler wohl damit gemacht haben mögen. Vielleicht haben sie ja experimentiert. Ich wäre jetzt gern in einer anderen Klasse, stellte ich fest. Herr Göbel sah sich das Trauerspiel gefühlte drei Stunden an – in Wirklichkeit waren es vielleicht fünf Minuten. Er befahl mir die Kreide auf seinen Tisch zu legen und benotete die Aufgabe nicht. Chance vertan. Eine neue bekam ich nicht.

Blick in die Richtung, wo einst die Tafel hing, im Raum meiner Verzweiflung. Sogar der Fußboden ist noch derselbe wie damals.

Wenn ich mir etwas wünsche…

Wir sollten in jenem Sommer 1992 noch eine letzte große Mathearbeit schreiben, die lange vorher angekündigt wurde. Ich war halbkrank an dem Tag, an dem sie geschrieben wurde. Mathe habe ich wirklich gehasst. Wie unsagbar toll es doch wäre, wenn wir sie nie zurück bekommen würden. Er könnte ja vielleicht eine lange andauernde Sommergrippe bekommen und mit 40 Grad Fieber das Bett hüten müssen. Immerhin war es kurz vor den Zeugnissen und die Sommerferien waren in greifbarer Nähe.

Eine Woche später standen wir alle in einer Schlange vor dem Klassenzimmer (ja das war so üblich) und warteten auf Einlass. Doch keiner kam. Herr Göbel war weit und breit nirgends zu sehen. Die Zeiger der Ganguhr waren nun schon zehn Minuten nach eigentlichem Unterrichtsbeginn. Kein Herr Göbel. Eine andere Lehrerin kam dann ziemlich hektisch und meinte, dass der Unterricht ausfallen müsse – Herr Göbel sei krank. Ich jubelte innerlich – nicht, dass ich ihm etwas Böses gewünscht hätte, eigentlich fand ich ihn ziemlich cool aber diese Klassenarbeit konnte getrost bleiben, wo der Pfeffer wächst. Sein Fehlen nahm ich als Kollateralschaden hin. Tatsächlich, und ganz so wie ich es mir gewünscht hatte, bekamen wir diese Klassenarbeit nie zurück. Der Tag der Zeugnisse kam und ich bin mit einem blauen Auge davon gekommen.

Fremde Gesichter

Nach diesem Schuljahr trennten sich die Wege unserer Klasse und jeder wechselte in eine andere Schule. Freundschaften zerbrachen und neue entstanden, so wie es immer war. Ich war froh, dass ich mit meinem Kumpel Maik gemeinsam in meine neue Klasse kommen sollte. Hauptsache ein vertrautes Gesicht in einem 30-köpfigen See aus neuen und fremden Gesichtern.

Die Nachricht

Die Wochen und Monate des neuen Schuljahres zogen ins Land und in jeder der großen Hofpausen fanden wir uns in vertrauten Grüppchen auf dem Schulhof zusammen und quatschten. Sinnloses Zeugs, damals aber von höchster Brisanz! Es war mittlerweile Mai 1993. Einer meiner ehemaligen Klassenkameraden, der jedoch in einer anderen Klasse als ich untergekommen war, haute es plötzlich raus und ich konnte es zuerst nicht richtig hören, weil alle durcheinander brabbelten. Ich hörte nur was von „Göbel“ und „Unfall“…

Herr Göbel – dessen schwarze Schuhe immer knarzten, der fast immer T-Shirts trug, der eine Kiste voll von tollen Sachen aller desinteressierten Schüler in seinem Schreibtisch verwahrte. Herr Göbel, der meine katastrophale Klassenarbeit nie zurück gegeben hatte war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. So erzählte man.

Sein Tod hat mich auf seltsame Weise tief berührt. Er war für uns damals ein cooler Typ. Das komplette Gegenteil zu den doch schon reiferen bebrillten Damen, bei denen wir bis dato Unterricht hatten. So brachte Herr Göbel frischen Wind in die Schule und in unseren Mathematik-Unterricht.

der berüchtigte ehemalige Matheraum an der 24. POS Fritz Selbmann in Hoyerswerda

Heute

Das alles ist nun 25 Jahre her und mittlerweile hat die Zeit ihr schweres Tuch über die damaligen Geschehnisse gelegt, so dass niemand mehr so recht weiß, was damals wirklich passiert ist. Ich stelle mir also heute die Frage, was aus ihm geworden wäre. Er würde vermutlich noch immer unterrichten, würde an einer anderen Schule Mathematik lehren und würde ganz sicher noch immer schwarze Jeans tragen und seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben, wenn er seinen Blick suchend über das Klassenzimmer schweifen lässt. Vermutlich hätten wir uns bei einem Klassentreffen wieder gesehen. Ich hätte ihm diese Anekdote erzählt und wir hätten herzlich darüber gelacht.

Heute wäre er vermutlich so um die 50 Jahre alt und bestimmt ein verdammt guter Lehrer. So wie damals im Spätsommer 1990, in meinem 5. Schuljahr an der 24. POS Fritz-Selbmann. Mir gefällt die Vorstellung, dass er in einer anderen Stadt lebt, noch immer seinen Karton mit unserem Spielzeug irgendwo tief im Keller stehen hat und meine Mathe-Klassenarbeit noch immer in einem Stapel unerledigter Dinge vor sich hin schlummert.

Die simple Tatsache, dass ich heute älter bin als er damals, fühlt sich seltsam für mich an. Ich bin noch so manches Jahr danach an verschiedenen Matheaufgaben verzweifelt und ganz gewiss auch so einige Male gescheitert. An dieser Tatsache konnte auch seine Lehrkunst nichts ändern aber Herr Göbel hat mir für mein späteres Leben eine Lektion mitgegeben; und die besteht aus viel mehr als nur stupiden Formeln und Zahlenreihen. Natürlich war diese Lektion schmerzhaft für mich und meinen Stolz und ganz ohne Frage hasste ich ihn damals dafür.

Er und dieses unrühmliche Erlebnis mit der Hausaufgabe sind mit einer der Gründe, weshalb ich einen schnellen bedeutungslosen Sieg von wahrem Erfolg unterscheiden kann. Denn ein wahrer Erfolg liegt nicht im Gewinnen, sondern vielmehr im Bestehen vor sich selbst, nicht wahr?! Ganz egal zu welchem Preis. Danke Herr Göbel!

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